Die Kunst wieder auf die Beine zu kommen

02/05/2021

von Dr. Gordon Neufeld 

Eine der herausforderndsten und wichtigsten Fragen unserer Zeit ist, warum manche Menschen scheinbar unbeschadet aus einer Krise hervorgehen, während andere daran zerbrechen, emotional verzweifeln oder körperlich erkranken. 

Vor nicht allzu langer Zeit war die vorherrschende Vorstellung, dass ausschließlich das Ausmaß von Stress, mit dem eine Person konfrontiert wird, erklärt, warum manche Menschen mit dem Leben „zurechtkommen“ und andere nicht. Es wurde angenommen, dass ein Trauma immer seine Konsequenzen hat; dass eine Scheidung immer Spuren hinterlässt; dass Stress, in hinreichender Menge einfach zu unserem Unheil führt. Die logische Konsequenz dieser Idee ist, dass gute Erfahrungen (oder die Abwesenheit von Widrigkeiten) letztendlich emotionaler Gesundheit und Wohlbefinden mit sich bringen.
 
Aber diese Vorstellung zeigt sich als irreführend. Stattdessen ist das Wohlergehen nicht ein Resultat von dem Fehlen von Krisen, sondern von dem Fehlen bestimmter emotionaler Prozesse, die uns in Krisenzeiten wieder auf die Beine bringen können.

Was sich herausgestellt hat, ist, dass nicht das, was uns passiert - gut oder schlecht -, erklärt, wie wir letztendlich betroffen sind, sondern vielmehr etwas über uns selbst, das die Bühne für die Geschichte, die sich entfaltet, bereitet. Aber was ist dieses "Etwas"? Haben es einige und andere nicht? Oder besitzt es jeder, aber es muss irgendwie aktiviert werden, damit sich das Potenzial entfalten kann?

Die Teile des Puzzles fügen sich schließlich zusammen, und die Antwort liegt in dieser bemerkenswerten menschlichen Eigenschaft, die Resilienz genannt wird: die Fähigkeit, wieder auf die Beine zu kommen. Resilienz ist die ultimative gute Nachricht - es sagt uns, dass Stress an sich nicht der Feind ist und dass wir uns von den Umständen in unserem Leben nicht unterkriegen lassen müssen. Nach Jahren der falschen Betonung des Stressanteils in der Gleichung liegt der Fokus nun auf der Entschlüsselung des erstaunlichen menschlichen Potenzials, durch Widrigkeiten zu wachsen, unter Druck zu gedeihen und nach einem Trauma sich wieder aufzurappeln.

Resilienz ist das wahrscheinlich wichtigste Thema unserer Zeit. Es birgt die Antworten für emotionale Gesundheit und Wohlbefinden, psychische Erkrankungen, Heilung und Genesung, Prävention, Sucht und vieles mehr. Resilienz ist nicht nur die beste allgemeine Prävention, sondern auch der beste Fokus für Interventionen. Resilienz sollte das Anliegen aller sein - nicht nur des medizinischen und pflegenden Fachpersonals, sondern auch der Pädagogen, der Eltern und der Gesellschaft im Allgemeinen. Bei Resilienz geht es um uns selbst und um diejenigen, für die wir verantwortlich sind.

Die Implikationen sind tiefgreifend. Anstatt Traumata, Störungen und Krankheiten zu behandeln, sollten wir uns darauf konzentrieren, die Fähigkeit zur Resilienz wiederherzustellen. Anstatt uns Sorgen darüber zu machen, was uns oder unseren Kindern widerfahren wird, sollten wir die Resilienz als unsere beste Versicherung für ihr Wohlbefinden in einer Welt, die wir nicht kontrollieren können, fördern.

Wie fördern wir also diese Eigenschaft in uns selbst, bei unseren Liebsten, bei unseren Schüler:innen und bei unseren Klient:innen? Es hängt alles davon ab, zu wissen, was Resilienz eigentlich ist, wie sie im Ruhezustand und bei der Arbeit aussieht und wie man die Bühne für diesen transformativen Prozess bereitet.

Obwohl die menschliche Fähigkeit zur Resilienz bemerkenswert ist, ist es auch etwas geheimnisvoll und sogar luxuriös. Resilienz ist spontan, aber keinesfalls zwangsläufig. Jeder Mensch besitzt das Potenzial für Resilienz, aber nur einige schaffen es auch, dieses zu realisieren. Man kann es nicht erzwingen und es ist keine Fähigkeit, die man erlernen kann. Resilienz ist nicht genetisch bedingt und es gibt keine Pille, die es hervorbringt. Resilienz liegt daher außerhalb der Parameter der beiden vorherrschenden Ansätze zur Erklärung von menschlichem Verhalten - sowohl des medizinischen Krankheitsmodells als auch des Lernparadigmas.

Woher also kommt die Resilienz und wie können wir es verstehen? Überraschenderweise liegen die Antworten in den neuen Erkenntnissen über Emotionen, Gefühle, Spiel und Ruhe. Diese zentralen Faktoren wurden leider durch den vorherrschenden Fokus auf Symptome, Syndrome und Stress sowie Problemverhalten und Störungen in den Hintergrund gedrängt. Bei der Geschichte der emotionalen Gesundheit und des Wohlbefindens geht es nicht darum, was mit uns passiert ist, sondern vielmehr darum, was in uns nicht passiert ist.

Ich werde versuchen, die Geschichte in Kürze zu erzählen, obwohl ich den Raum eines Kurses bevorzuge, um das Ganze zu vertiefen, oder zumindest eine Einführung, um die Bühne zu bereiten. Die Geschichte der Resilienz beginnt mit dem Verständnis, dass optimales Funktionieren durch eine gewisse Verspieltheit, Ruhe und Empfindsamkeit/“Gefühlvollheit“ gekennzeichnet ist. (Ich habe dieses Wort erfunden, weil wir ein solches Konstrukt dringend brauchen.) Das Problem mit Stress ist, dass es uns typischerweise diese schwer fassbaren Zustände raubt. Wie können wir also diese Qualitäten wiedererlangen, wenn sie einmal verloren gegangen sind? Die Antwort auf diese Frage ist der heilige Gral der Heilung, der Genesung und des emotionalen Wohlbefindens.

Wenn man die Punkte zusammenfügt, scheint es, dass die Wiederherstellung dieser Qualitäten nur dann geschehen kann, wenn wir genügend Zugang zu unserer Traurigkeit, eine gewisse Geborgenheit und genügend innere Stärke haben, um nicht vor Widrigkeiten wegzulaufen. Von entscheidender Bedeutung ist die Erkenntnis, dass wir diese Dinge viel eher wahrnehmen, wenn wir uns in dem Kontext einer sicheren Bindung oder im echten Spiel befinden. Aber die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende. Es stellt sich heraus, dass Resilienz von uns verlangt, eine emotionale Reise zu unternehmen - sozusagen eine Reise durch die metaphorischen Jahreszeiten eines emotionalen Herbstes, Winters und Frühlings. Das Geheimnis des emotionalen Aufschwungs liegt in der emotionalen Enttäuschung, die ihm vorausgeht. Wir werden erst dann wieder leichter, wenn wir die Schwere ein wenig umarmt haben. Unsere Herausforderung besteht also darin, uns auf diese Reise vorzubereiten und ihr die nötige Unterstützung zu gewähren.

In einer Welt, in der wir nicht kontrollieren können, was passiert, gibt es nichts Wichtigeres als Resilienz - wenn wir uns um unsere Schüler:innen, unsere Klient:innen, unsere Liebsten und um uns selbst kümmern. 

Bildquelle: jes2ufoto auf 123rf

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